Wächst man im Rhein-Main-Gebiet auf, ist das mit dem Schnee so eine Sache. Klar, man kennt die weiße Pracht, allerdings mehr so von zwei bis drei Vormittagen pro Wintersaison. Regelmäßig bricht dann ab einer Neuschneemenge von 0,3 Zentimetern das übliche Verkehrschaos über die Region herein, sodass man es nach Möglichkeit vermeiden sollte, während dieser Zeit ins Auto zu steigen.
Da auch die winterlichen Skigebiete nicht zu meinen bevorzugten Urlaubsregionen zählen, beschränkt sich meine Erfahrung bezüglich des Fahrens auf Schnee bisher auf nur wenige Kilometer. Kurz überlegen muss ich daher, als ich die Einladung erhalte, den neuen Mercedes All-Terrain unter Winterbedingungen zu testen. Moment, den – was?
All-Terrain. So heißt der neuste Zuwachs für die E-Klasse. Nie zuvor gehört – und dennoch sofort ein Bild im Kopf. Das muss man als Hersteller auch erst einmal hinbekommen. Mich wird also, so meine Vorstellung, ein E-Klasse T-Modell erwarten, höhergelegt, potent motorisiert, mit martialischem Auftreten, großen Rädern, kunststoff-verbreiterten Radläufen und Unterfahrschutz.
Das, was da am Flughafen von Innsbruck auf mich wartet, entspricht dann tatsächlich ziemlich genau dem, was ich mir vorgestellt hatte. Ein cooles Fahrzeug, leicht brutale Optik, die auf den ersten Blick zeigt, dass das hier eine ganz spezielle E-Klasse ist.
Die Idee für so ein Fahrzeug ist keineswegs neu und bei anderen Herstellern schon einige Jahre fester Bestandteil des Modellprogramms, ob nun All-Track, All-Road oder wie auch immer genannt. Ein wenig verwundert es da, dass Mercedes dann doch erst recht spät auf diesen Zug aufspringt.
Geplant war der All-Terrain, so erfahre ich, schon eine ganze Weile. Nur machte es wirtschaftlich keinen Sinn, diesen noch im relativ fortgeschrittenen Modellzyklus der vorherigen E-Klasse einzuführen. Daher also erst jetzt, zur Baureihe 213.
Auch wenn ich die Serienversion des E-Klasse T-Modells (den Test von E 400 und E 43 AMG gibt es hier noch einmal zum Nachlesen) nach wie vor als optisch rundum perfekt bezeichnen würde, so stehen ihr die Anbauteile recht gut zu Gesicht, machen aus dem S 213 direkt ein ganz anderes Auto. Kleine Ursache, große Wirkung.
Durch den Zwei-Lamellen-Grill im SUV Design rückt der All-Terrain eher in Richtung GLC bzw. GLE. Die schwarzen Radläufe, das Plus an Bodenfreiheit und die großen Felgen, zur Wahl stehen 19″ Felgen in zwei neuen Designs, sowie für den Sommer auch optionale 20″ Felgen, tun ihr Übriges.
Von diesen Details und den speziellen Plaketten auf den Fußmatten abgesehen, ist der All-Terrain eine normale E-Klasse. Mit all den faszinierenden Features, über die ich in meinem damaligen Bericht schon geschrieben habe.
Um so besser, mehr Zeit also, mich mit dem eigentlichen Thema des heutigen Tages zu befassen, dem Fahren auf Schnee. Nun ist das mit diesem Anfang Dezember selbst in Tirol so eine Sache. Halbwegs sicher ist die weiße Pracht nur ab einer bestimmten Höhe und selbst in Hochgurgl, dem Ausgangspunkt des heutigen Trips, lässt die Schneehöhe, von den künstlich berieselten Pisten einmal abgesehen, durchaus zu wünschen übrig.
Also noch ein wenig höher hinauf. Zum gerade einmal ein Jahr alten Top Mountain Crosspoint, einem Motorrad-Museum auf 2.175 Metern Höhe. Der Crosspoint ist gleichzeitig auch Maut-Station für die dort beginnende Timmelsjoch-Hochalpenstraße.
Die ist in der Regel nur von Anfang Juni bis Ende Oktober geöffnet. Doch keine Regel ohne Ausnahme. Denn heute gehört die Passstraße hinauf zum 2.491 Meter hohen Grenzpunkt zwischen Österreich und Italien uns. Nur uns!
Jeweils mit vier Fahrzeugen, plus Führungs- und Abschlussfahrzeug, geht es auf die abgesperrte Strecke. Zunächst noch auf trockenem Asphalt, doch schon bald wartet in einer Rechtskurve: der Schnee.
Genau genommen sogar verschiedene Versionen von Schnee. Festgefahrener, fester Schnee wechselt sich mit lockerem Neuschnee ab, den eine kürzlich abgegangene Lawine auf der Strecke hinterlassen hat.
Lawinen, eine hierbei nicht zu unterschätzende Gefahr. Gerade erst zwei Tage zuvor war die Strecke gesperrt. Zu gefährlich. Heute aber geben die örtlichen Experten grünes Licht.
Doch noch mehr winterliche Straßenverhältnisse warten bis zum obersten Punkt. Festgefahrener, rippiger Schnee und – pures Eis, unter der dünnen Schneedecke kaum zu erkennen. Wächst man im Rhein-Main-Gebiet auf, sind das echte autofahrerische Herausforderungen. Eigentlich.
In der All-Terrain E-Klasse hingegen bekommt man bei sowas keine schwitzigen Finger. Der Fahrer lenkt, das Auto denkt. Es greift ein, es regelt. Losfahren am schneebedeckten Berg? Einfach Gaspedal komplett durchdrücken, den Rest erledigt die Elektronik, greift in das Drehmoment ein, regelt die Bremsen der vier angetriebenen Räder (normale Kraftverteilung beim Linkslenker: 45:55).
Die E-Klasse beschleunigt souverän und bleibt dabei in der Spur. Auch Kehren sind so kein Problem. Im Comfort oder auch All-Terrain Mood muss man keine Quersteher fürchten, wer ein klein wenig mehr Drift möchte, schaltet in den Sport Modus. Sport Plus gibt es beim All-Terrain übrigens nicht.
Wie fast schon narrensicher sich das Auto auf dem schlüpfrigen Untergrund gibt, ist einfach unglaublich. Zunächst als Beifahrer unterwegs, rechne ich die Spurtreue noch meinem durchaus versierten Kollegen hinter dem Steuer zu. Doch nach dem Fahrerwechsel (und anfänglichen Bedenken meinerseits) merke ich: Nö. Das kannste auch! 50, 60, 70 km/h. Auf Eis und Schnee. Abbremsen, beschleunigen, lenken. Geraden, Kurven, Kehren. Perfekt gemeistert. Himmel, bin ich gut!
Bin ich natürlich nicht. Es ist das Auto, und dessen sollte man sich, steigt man danach wieder in ein elektronisch weniger begabtes Gefährt, unbedingt bewusst sein.
Testfahrt beendet. Noch eine Runde? Am liebsten ja. Doch wartet im Tal noch eine weitere Challenge auf uns.
Der Weg dorthin führt über ganz gewöhnliche Straßen. Dank des im All-Terrain serienmäßigen Luftfahrwerks Air Body Control ist der Fahrkomfort auf diesen wirklich hochkarätig. Das Gleichnis mit der Sänfte, so überstrapaziert es auch sein mag, selten passt es so gut wie hier.
Was aber wartet nun für eine zweite Challenge auf uns? Es ist: eine Offroad-Strecke.
Nein, die All-Terrain E-Klasse ist kein SUV, erst recht kein Geländewagen. Sie ist dafür konzipiert, auch mal auf matschigen Wegen durchzukommen, zur entlegenen Berghütte zu fahren, oder eben für Schnee, wie ich eben ja eindrucksvoll erfahren durfte.
Um so erstaunlicher: die Waldstrecke, die Mercedes für den Offroad Test ausgewählt hat, hat es durchaus in sich. Die Steigungen sind beachtlich, die Steine, Wurzeln, die es zu bewältigen gilt, würde ich mich mit einem normalen Fahrzeug nicht überwinden trauen.
Der All-Terrain macht das alles aber äußerst souverän. 29 Millimeter liegt er im Normalfall höher als die Serien-E-Klasse. Zurückzuführen ist das einmal auf die Reifen mit größerem Höhen- / Breitenverhältnis (+ 14 mm), zum anderen auf das höhere Normalfahrwerk der Luftfederung (+ 15 mm).
Dieses lässt sich im All-Terrain Modus bis zu einer Geschwindigkeit von 35 km/h noch einmal um zwanzig weitere Millimeter auf insgesamt + 35 mm anheben. Macht eine Bodenfreiheit von maximal 156 Millimetern. Genug für das anspruchsvolle Waldstück hier. Und seien wir ehrlich, das, was der All-Terrain auf dieser Strecke leisten muss, übertrifft mit Sicherheit alles, was gefühlt 98% aller SUVs in ihrer täglichen Praxis durchmachen müssen.
Das wirft die Frage auf, an wen sich so ein Auto, das speziell für den europäischen Markt konzipiert wurde, aber auch in Australien und Russland erhältlich sein wird, überhaupt richtet. Wahrscheinlich an alle, denen ein SUV zu kompromisslos ist, die im Normalfall eine der besten Reiselimousinen (respektive -kombis) am Markt fahren möchten, aber auch für etwas extremere Situationen gerüstet sein wollen.
Natürlich aber auch an all die Fahrer von Firmenwagen, denen die entsprechende Politik keinen SUV zugesteht. Für jene dürfte auch die zur Markteinführung einzig erhältliche Motorisierung interessant sein. Der 2-Liter Reihen-Vierzylinder des E 220 d 4 MATIC leistet 194 PS und 400 Nm, beschleunigt das gut 1,9 Tonnen schwere Gefährt in 8 Sekunden auf 100 km/h und bringt es auf 232 km/h Spitze. Das reicht im Alltag auf alle Fälle, dynamischen Fahrspaß der Extraklasse allerdings darf man sich hier nicht erwarten.
Und auch der zu einem späteren Zeitpunkt erhältliche 3-Liter V6 im E 350 d 4MATIC zeigt, dass hier durchaus noch ein wenig Luft nach oben wäre. Von Benzinmotoren oder gar einem AMG E 43 All-Terrain möchte bei Mercedes derzeit allerdings noch niemand sprechen. Ein Blick zum Mitbewerb lässt aber dennoch auf weitere Ausbau-Stufen, auch jenseits der 300 PS, hoffen.
Vielsagend übrigens auch das Schweigen auf die Frage, ob wir zukünftig bei der C-Klasse ebenfalls ein All-Terrain Modell erwarten dürfen. Man darf also gespannt sein, ob und was da diesbezüglich in den kommenden Jahren noch so alles auf uns zurollt.
Mein Fazit für heute: die Mercedes E-Klasse All-Terrain vereint das Beste zweier Welten. Sie ist ein komfortables Langstreckenfahrzeug mit erstaunlichen und für die meisten Menschen mehr als ausreichenden Offroad-Qualitäten. Die Optik ist äußerst gelungen, jetzt noch ein paar weitere, potente Motorisierung, und der Spaßfaktor auf und abseits befestigter Straßen ist kaum noch zu toppen.
Die Markteinführung des Mercedes E 220 d 4MATIC All-Terrain ist für das Frühjahr 2017 geplant. Die Preise sollen sich dann an denen ähnlich ausgestatteter E-Klasse T-Modelle (Basis Avantgarde) zzgl. 4MATIC und Air Body Control orientieren.
Fotos & Text: © Percy Christian Schoeler (PCS) 2016
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