Allein die Einladung, die vergangenen Winter bei mir eintrudelte, war schon in höchstem Maße mysteriös. Es werde etwas präsentiert. Was, das werde noch nicht verraten. Fotoequipment am besten auch gleich zuhause lassen. Presse-Embargo und so. Keine Fotos. Erst auf der Baselworld. Verstanden. Also ab nach Genf.

Arbeitsplatz bei Agenhor in Genf

Ebenfalls ungewöhnlich für solche Events: es wird keine konkrete Zeit genannt, zu der man sich zwecks Abfahrt in der Hotellobby versammeln soll. Stattdessen klopft es auf einmal an der Zimmertür. Ich öffne. Wortlos wird mir eine große Sanduhr überreicht. Hermès macht’s mal wieder spannend.

„Tonstudio“, Marke Eigenbau

Wie lange die Sanduhr wohl läuft? Und was am Ende dieser Zeit auf mich wartet? Vorfreude setzt ein und nach den ersten zwanzig Minuten lässt sich in etwa abschätzen, dass es sich insgesamt um eine Stunde handeln wird, die diese Sanduhr misst. Aber: was soll das bloß? Die Antwort darauf gibt es am nächsten Morgen. Die Fahrt geht in den Westen von Genf. Kurz hinter dem Flughafen endet die Reise beim Atelier Genevois d’Horlogerie, kurz AGENHOR.

Uhrmacher von Agenhor bei seiner Arbeit

Agenhor wurde in den 90er Jahren von Jean-Marc Wiederrecht gegründet und ist spezialisiert auf die Entwicklung und Realisation spezieller Module und Uhrwerkskonstruktionen. Wiederrecht entwickelt für viele namhafte Manufakturen und erhielt bereits 2007 den Preis des besten Uhrmachers im Rahmen des Grand Prix d’Horlogerie de Genève.

Kaliber H1912

Für Hermès entwickelte man unter anderem die Arceau Temps Suspendu (2011), bei der sich die Zeiger auf Knopfdruck von der Zeit „lösen“ lassen, sowie den Ewigen Kalender auf Basis der Slim d’Hermès (2015). Der Slim d’Hermès habe ich hier auf luxify bereits zwei Reviews gewidmet (wer sie nicht kennt, kann hier und hier noch einmal tiefer in die Materie dieser Modellreihe eintauchen).

Die Slim d’Hermès L’heure impatiente auf der Baselworld

Auf jener Slim d’Hermès basiert nun auch die Neuheit, für die ich nach Genf gekommen bin. Ihr Name: L’heuer impatiente. Frei übersetzt, die Stunde der Ungeduld – oder eher die ungeduldige Stunde? Mein Französisch ist nicht das Allerbeste, man möge mir Fehler daher bitte nachsehen.

Laurent Dordet, CEO von Hermès Watches, und Philippe Delhotal, Creative Director, versetzen mich mit ihrer Erklärung jener Komplikation jedenfalls direkt zurück in meine Kindheit: der Heilige Abend, die Stunde vor der Bescherung. Man wusste, dass es gleich soweit sein würde, doch die Zeit, sie verging so furchtbar langsam. Ungeduld mischte sich mit Vorfreude. Genau hier setzt Hermès an.

Das AGH 4132 vor dem Einbau

Die Stunde der Ungeduld, die Stunde der Vorfreude – auf ein besonderes Ereignis, ein heißersehntes Date beispielsweise, auf ein Wiedersehen mit Freunden, der Familie, vielleicht auch nur auf den Feierabend oder die Mittagspause – sie lässt sich mit der L’heure impatiente messen. Die Uhr ist so etwas wie ein Wecker mit Countdown-Funktion, aber doch ganz anders. Leichter, verspielter. Charmanter. Doch wie funktioniert diese Idee nun?

Alles beginnt mit dem kleinen Hilfszifferblatt zwischen 4 und 5 Uhr und der daneben befindlichen Krone. Mit ihr stellt man die Alarmzeit – nein, das klingt so schrecklich martialisch, Jean-Marc Wiederrecht spricht vom Rendez-Vous, das klingt viel besser – man stellt also das Rendezvous ein. Die Krone bewegt den blau lackierten Zeiger auf die gewünschte Uhrzeit, das Rendezvous kann dabei bis zu zwölf Stunden in der Zukunft liegen, die Unterteilung erfolgt in Viertelstundenschritten.

In der nun verbleibenden Zeit bis dahin dreht sich das komplette Hilfszifferblatt inklusive des Zeigers mit. Bis 60 Minuten vor dem Rendezvous ist das auch das Einzige was, zumindest sichtbar, passiert. Dann beginnt die Stunde der Vorfreude. Die retrograde Anzeige bei 6 Uhr zählt die verbleibenden Minuten herunter, bis dann zum Ablauf der Stunde die Sonnerie mit einem einzelnen, satten Ton erklingt. Zum Deaktivieren der Funktion muss einfach nur der Drücker bei 9 Uhr betätigt werden.

Die L’heure impatiente ist eine sehr spezielle Komplikation, die bisher vielleicht auch niemand wirklich vermisst hat. Doch so trocken und lieblos darf man nicht an die Sache herangehen. Das Spielen mit der Zeit hat Tradition bei Hermès, wie zuletzt die L’heure masquée im Jahr 2014 zeigte, bei der sich der Stunden- hinter dem Minutenzeiger verstecken ließ. Und auch die L’heure impatiente verrät erneut, dass man sich bei Hermès einfach nicht immer ganz ernst nehmen will.

Doch was am Ende nach Verspieltheit und Leichtigkeit aussieht, ist in der Entwicklung harte Arbeit. Vier Jahre vergingen von der ersten Idee bis zur fertigen Uhr. Vier Jahre, die Jean-Marc Wiederrecht und sein Team vor eine Reihe von Herausforderungen stellte.

Bei der slim d’Hermès ist der Name Programm. Insofern konnte man nicht beliebig viel Bauhöhe für die Komplikation in Anspruch nehmen. Mehr als ein Millimeter war nicht drin. Das schloss ein eigenes Federhaus aus. Die Sonnerie muss somit mit der Kraft auskommen, die vom Basiskaliber bereitgestellt wird. Ein weiteres Problem: der Klang. Denn für den braucht man möglichst viel Volumen, sprich Luft in der Uhr.

Die das Werk umgebende Tonfeder

Die Lösung für beide Probleme ist ein Modul, das das eigentliche Uhrwerk in seiner Mitte aufnimmt, quasi um es herum gebaut ist. Um genügend Platz zu haben, wählte man als Basiskaliber das H1912, welches mit 23,9 Millimetern Durchmesser normalerweise eher in den Damenuhren des Hauses, etwa der Cape Cod, zu finden ist.

Das H1912 ist ein Manufakturwerk, welches von Vaucher in Fleurier (Hermès ist dort mit 25% beteiligt) exklusiv für Hermès entwickelt und 2012 erstmals präsentiert wurde. Das mechanische Werk mit automatischem Aufzug schlägt mit einer Frequenz von 28.800 Halbschwingungen pro Stunde (4 Hz) und bringt es im Zusammenspiel mit dem Agenhor Modul auf eine Gangreserve von immerhin noch 42 Stunden.

Die nächste Frage: mit was für einem Ton soll die Sonnerie erklingen? Statt übermäßiger Lautstärke setzte Wiederrecht hier auf einen möglichst langgezogenen Einzelton. Mindestens eine Sekunde solle der erklingen, besser noch länger. Im vom Team eigens dafür gefertigten „Tonstudio“ feilte man so lange, bis der perfekte Ton gefunden war.

Die Uhr im „Tonstudio“

Herausgekommen ist letztlich ein Modul, welches es auf 131 Komponenten bringt. Das H1912 an sich hat noch einmal 193 Komponenten. Macht 324 Komponenten, von denen ich auf zwei unbedingt noch näher eingehen muss: Pegasus und den Hai!

Komponenten des Agenhor-Moduls

Auf – WAS – bitte? Nun, man wird Werkteile im Allgemeinen so gestalten, dass die Form der Funktion folgt, sie anschließend maximal noch fürs Auge entsprechend finissieren. Doch wir sind hier bei Agenhor, da darf es gerne mal ein wenig mehr als das sein.

Pegasus und…

Und so hat der für die Spannung der Feder in den 60 Minuten vor dem Rendezvous zuständige Hebel hier die Form von Pegasus, dem geflügelten Pferd aus der griechischen Mythologie, welches auch auf den Carrés von Hermès immer wieder zu finden ist.

… der Hai!

Der „Gegenspieler“ des Pegasus ist ein kleiner Hai. Passiert Pegasus mit seinem Lauf die Finne des Hais, löst sich die Spannung der Feder schlagartig und lässt den kleinen Hammer auf die Tonfeder am Rande des Uhrwerks prallen.

Pegasus und der Hai in der Computersimulation

Eigentlich schade, dass dieser wunderschöne Mechanismus in der fertigen Uhr dem Betrachter verborgen bleibt, denn er sitzt direkt unterhalb des Zifferblatts.

Jenes ist wieder mit den einzigartigen und für die Slim d’Hermès Reihe typischen Art-Deco-artigen Ziffern bedruckt. Das versilberte Opalin-Blatt ist im Stundenkreis mit einem Sonnenschliff versehen, Zentrum und Hilfszifferblatt sind im Kontrast dazu azuriert.

Die L’Heure impatiente gibt es ausschließlich in Rotgold. Ihr Gehäuse misst 40,5 Millimeter im Durchmesser und ist bis 3 bar wasserdicht. Ausgeliefert wird die Uhr an einem Alligatorlederband mit Dornschließe. Der Preis beträgt 31.000 Euro.

Mein Fazit: als mir im Hotel jene große Sanduhr überreicht wurde, wusste ich noch nicht so recht, wie mir geschieht. Im Nachhinein ergibt alles einen Sinn. Die L’heure impatiente ist eine mechanische Sanduhr fürs Handgelenk. Sie überzeugt mit einer Funktion, die dem Nutzer jedes Mal ein Schmunzeln ins Gesicht treibt und trifft mit ihrer Verspieltheit direkt ins Herz. Die L’heure impatiente steht mit ihrer Idee für all das, was Hermès so unglaublich sympathisch macht. Optisch ist sie – wie alle Vertreter der Slim d’Hermès Reihe – ohnehin ein Traum.

 

Fotos: Eveline Perroud für Hermès (5), PCS (19)
Text: © Percy Christian Schoeler (PCS) 2017

 

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