Als ich das Flughafengebäude von Genf verlasse, mag ich zunächst meinen Augen nicht trauen. Mein Chauffeur, standesgemäß mit einer Royal Oak Offshore älteren Datums am Handgelenk, läuft zielstrebig auf ein Tesla Model S zu. Nicht, dass ich so ein Fahrzeug nicht schon einmal gesehen hätte, doch als Shuttle einer altehrwürdigen Uhrenmanufaktur hätte ich ein solch futuristisches Elektrofahrzeug nun tatsächlich nicht erwartet.
Einmal eingestiegen, erblicke ich das bereitliegende USB Ladekabel. Es kommt wie gerufen, denn mein iPhone hat nur noch 50% Akku und das reicht – niemals. Doch weigert es sich beharrlich, Strom anzunehmen. Das Zubehör (meint es etwa den Tesla damit?) würde nicht unterstützt, heißt es. Schöne neue Technikwelt, denke ich mir genervt, während wir Genf in Richtung Nyon verlassen.
Von Genf ins Gebirge – und in eine andere Welt
Von dort aus führt eine kurvige Passstraße hinauf ins Jura-Gebirge. Auf dieser Straße habe ich den Eindruck, in eine andere Epoche zurückzureisen. Die Umgebung, sie macht auf mich den Eindruck, als sei hier die Zeit stehengeblieben. Ja mehr noch, als spiele Zeit überhaupt keine Rolle. Um so deplatzierter wirkt mein lautlos durch die Gegend gleitender, futuristisch anmutender und sich meinem Smartphone verweigernder, fahrbarer Untersatz.
Als wir den Gebirgsrücken passieren, wird langsam der Blick frei auf das Vallée de Joux. Das Hochtal liegt auf etwa 1.000 Meter Höhe und ist rundherum völlig abgeschlossen. Die Geschichte des Vallée, warum gerade hier die Einwohner anfingen, sich im Winter an die Entwicklung und den Bau komplizierter Uhrwerke zu machen, ist bekannt. Doch erst, wenn man einmal tatsächlich hierher kommt, die Umgebung sieht, begreift man wirklich, wie es dazu kam.
Im Winter gab es hier – einfach nichts. Im Tal wird es kalt. Sehr kalt. Die Winter sind rau, und sie sind lang. Kein Entkommen hieß es damals bis zum Frühjahr. Dann, nach der Schneeschmelze, begaben sich die Uhrmacher langsam über das Gebirge hinab nach Genf um bei den dort ansässigen Uhrenfirmen ihre Werke abzugeben.
Im Vallée de Joux ist alles zuhause, was Rang und Namen hat
Fährt man heute durch das Vallée, geht einem Uhrenfan permanent das Herz auf. Alle großen Marken sind hier beheimatet oder betreiben zumindest die ein oder andere Fertigungsstätte. Dazwischen: Unmengen an Unternehmen, spezialisiert auf Feinmechanik und Mikrotechnik, Zulieferer der großen und kleinen Manufakturen.
Die Architektur der oft äußerst modernen Werkshallen ist atemberaubend. Lohnenswert ist aber auch ein Blick auf die alten, historischen Gebäude. Reiht sich, meist in den oberen Stockwerken, ein Fenster direkt ans Nächste, so ist dies untrügliches Zeichen dafür, dass hier einst (oder noch immer) Uhrmacher ihrer Arbeit nachgingen.
Kommt man aus Richtung Nyon über die Route de France ins Vallée de Joux, ist Le Brassus der erste, größere Ort. Ziemlich am Ortsanfang liegt auf der linken Straßenseite der Stammsitz von Audemars Piguet. Hier, mittendrin und fast schon unscheinbar, umrahmt von kleineren und manchmal auch größeren Einfamilienhäusern also, liegt das Zentrum einer der begehrenswertesten Uhrenmarken überhaupt.
Audemars Piguet – ganz anders als erwartet
Irgendwie hatte ich mir das alles ein wenig anders vorgestellt, größer, glamouröser, brutaler, denke ich mir, als ich auf dem gegenüberliegenden Parkplatz meinem futuristischen Gefährt entsteige.
Brutal wird es dann aber doch noch: am Direktionsparkplatz. Dieser ist mit einem dicken, schwarzen Bumper versehen, von welchem mir niemand Geringeres als der Terminator selbst entgegenblickt. Ein Hinweis auf die Vorlieben des CEO? Wer weiß. Cool jedenfalls. Sehr cool.
Es ist ein wunderschöner Tag hier im Vallée, die Sonne scheint, es ist heiß. Auf meinem Weg zum Hauptgebäude kommen mir jede Menge Mitarbeiter entgegen, die sich in ihrer Pause gerade auf den Weg zum Ortskern machen. Was direkt auffällt: alle strahlen, sind äußerst gut gelaunt. Ob’s allein am Wetter liegt? Ich denke nicht. Audemars Piguet, es gibt sicher deutlich unattraktivere Arbeitgeber.
Der letzte macht das Licht aus: Besuch im Museum von Audemars Piguet
Im Nebenhaus, eigentlich zwei Doppelhaushälften, die nun zu einem Gebäude verschmolzen sind, ist das Museum untergebracht. Noch. Denn ich dürfte tatsächlich einer der letzten Besucher hier sein. Das neue Museum steht kurz vor der Eröffnung. Durch die Fenster des historischen Gebäudes ist es gut zu sehen. Ein architektonisch extrem spannendes, gläsernes „Schneckenhaus“, welches sich optimal in die Landschaft einfügt.
Noch allerdings sind die wertvollen Stücke, die großen Komplikationen, ewigen Kalender, Minutenrepetitionen und Schleppzeigerchronographen am ursprünglichen Ort zu bewundern. Und natürlich: die Royal Oak. Jenes ikonische Design des genialen Gerald Genta, welches seit der Präsentation im Jahr 1972 ganz maßgeblich die Marke prägt. Die erste Offshore, Schwarzeneggers End of Days oder die erste Concept Watch – hier sind sie alle zu sehen, zu bestaunen.
Restauration – und sei die Uhr auch noch so alt
Weiterer Punkt auf der Agenda: die Restauration. Dort werden alte, historische Modelle wiederaufgebaut. Audemars Piguet kann hier jede ihrer jemals produzierten Uhren reparieren, restaurieren.
Zu diesem Zwecke werden beispielsweise schon Jahrzehnte nicht mehr vorrätige Zapfen oder andere Werkteile von Hand nachgefertigt. Eine zum Teil extrem zeit- und damit auch kostenaufwändige Sache. Auch Tonfedern für alte Sonnerie-Uhren entsehen hier.
In einem Stahlschrank: hunderte Boxen, beschriftet mit teils scheinbar wirren Zeichen. In ihnen: alte Teile aus den letzten gut einhundertvierzig Jahren, die heute als wertvolle Vorlage bei der Reproduktion dienen.
Die Bibliothek und warum AP ein Herz für andere Marken hat
Im Raum nebenan: Bücher. Viele Bücher. In der Bibliothek sind jedoch nicht nur Publikationen über die eigene Marke zu finden, auch Bücher zu den Uhren der vermeintlichen „Konkurrenz“ stehen in den Regalen.
Doch das mit der Konkurrenz, das sieht man bei AP eher relativ. Zu Zeiten, als die Uhrmacher im Winter das Vallée nicht verlassen konnten, ihre Uhrwerke bauten, war es ganz selbstverständlich, dass man sich gegenseitig half, unterstützte. Der Eine war eben besonders gut in der Herstellung von Chronographen, dem anderen lag die Herstellung eines Jahreskalenders mehr. Und auch heute arbeitet man hier und dort noch eng zusammen.
Ein schönes, aktuelles Beispiel ist das direkt nebenan gerade in Bau befindliche Hôtel des Horlogers. Das wird zwar von AP errichtet, soll aber Heimat für die Besucher aller hier ansässigen Manufakturen sein.
Neben den Büchern über all die bekannten Marken zieht ein großer Tresor in der Bibliothek meine Aufmerksamkeit auf sich. In ihm: weitere Bücher. Nicht irgendwelche Bücher. Die gesamte Historie der Manufaktur.
Jede einzelne Uhr, die die Gebäude von Audemars Piguet jemals verließ, ist hier handschriftlich vermerkt. In den Produktionszahlen spiegelt sich in ganz erschreckender Weise auch die Lage der Weltwirtschaft wider. So zeigt das Buch der späten 20er und frühen 30er Jahre, wie die Produktionszahlen immer weiter abnahmen, im Jahr 1932 gar nur zwei Uhren Le Brassus verließen.
40.000 Uhren – und keine einzige mehr!
Heute schaut die Sache natürlich anders aus. Ganz anders. Und doch ist Audemars Piguet, verglichen mit so manch anderem Hersteller im Luxusuhrensegment, eine kleine Manufaktur. Ganze 40.000 Uhren produziert man pro Jahr. Keine einzige mehr, so erzählte mir François-Henry Bennahmias, seit 2012 CEO von Audemars Piguet, auf dem SIHH.
Die Nachfrage, speziell nach den Modellen der Royal Oak Reihe, ist deutlich größer. Warum gerade von der Royal Oak „Jumbo“ dennoch nicht viel mehr Uhren produziert werden, das wird bei der nächsten Station dieser Tour klar.
Es geht zu einigen recht unscheinbaren, hölzernen Gebäuden ins benachbarte Le Chenit. Dort findet die Produktion der Gehäuse statt. Wer sich das Finish einer Royal Oak einmal genauer angeschaut hat ahnt, wie aufwändig die Veredelung der heute natürlich maschinell hergestellten Gehäuse ist.
Keine polierte Fläche ist hier wirklich gerade, alles hat eine leichte, exakt definierte Rundung, damit die Fasen und Flächen genau den Glanz, den Effekt bieten, der diese Uhren so faszinierend macht. Dies alles geschieht von Hand und mit einer Leichtigkeit, dass man versucht ist, es selbst einmal zu probieren – und augenblicklich an jener Aufgabe scheitern würde.
Hier sitzen Spezialisten, die den exakten Dreh, den exakten Winkel, den exakt benötigten Druck über Jahre gelernt haben. Ihnen bei der Arbeit zuzusehen, versetzt einen in permanentes Staunen.
Die Produktion und deren Flaschenhals
Der wahre „Flaschenhals“ der Royal Oak Modelle aber ist die Produktion der Zifferblätter im so bekannten Tapisserie-Muster.
Hierfür nötig sind spezielle Maschinen, die auf der Funktionsweise eines Pantografen beruhen. Eine große Scheibe mit dem jeweiligen Tapisserie Motiv dient als Vorlage und wird von der Maschine Schritt für Schritt von außen nach innen abgetastet.
Das Muster wird so exakt auf den Zifferblattrohling übertragen. Das Ganze dauert, je nach Zifferblattgröße und Motiv, bis zu 50 Minuten und sollte in dieser Zeit jemand versehentlich an der Maschine wackeln, ist die ganze Arbeit dahin.
Jene Maschinen sind alt und Audemars Piguet kauft jede am Markt auftauchende an, lässt sie revidieren. Rund 20 Stück stehen hier, macht also etwa 20 Zifferblätter pro Stunde bzw. 160 Zifferblätter am Tag, die entstehen können. Auch über das Jahr gerechnet, hält sich die Anzahl der hier auf diese Weise produzierten Blätter (die Méga-Tapisserie-Blätter der Offshore Modelle werden auf andere Weise produziert) daher in engen Grenzen.
Selbst, rechnet man die parallel beim Zifferblatthersteller Stern auf die gleiche Art entstehenden Blätter hinzu, wird schnell klar, dass man die Produktion jener Modelle nicht einfach nach Belieben ausweiten kann.
Die moderne Fertigung in Le Brassus
Die letztliche Fertigung der Uhren findet dann nicht hier in Le Chenit, sondern wiederum in Le Brassus statt. Der Neubau der Manufaktur liegt in der Rue des Forges, über eine kleine Brücke gelangt man zum Eingang.
Verteilt auf zwei Stockwerke, entstehen die Uhren von Audemars Piguet, angefangen von der klassischen zwei-Zeiger Royal Oak bis zur Grande Complication.
Ruhig geht es hier zu, erneut ganz so, als Spiele Zeit eigentlich keine große Rolle bei der Produktion eines Zeitmessers. Den Uhrmachern bei ihrer Arbeit zuzuschauen hat etwas zutiefst beruhigendes, entspannendes. Scheinbar völlig in ihr Tun sind sie versunken, viele tragen Kopfhörer.
Wenn Träume in greifbare Nähe kommen
Auf den Tischen dann liegen sie dicht an dicht, die Objekte der Begierde, die ikonischen Uhren, allen voran natürlich die 15202, die extraflache Royal Oak „Jumbo“.
Nebenan arbeitet ein Uhrmacher gerade am Werk der Royal Oak Double Balance Wheel Openworked. Einblicke, die man nur sehr selten erhält.
In der Spezialabteilung, in der die Grandes Complications entstehen, arbeiten nur eine Hand voll Mitarbeiter. Alle großen Komplikationen werden von ihnen gebaut.
Wie in der gesamten Manufaktur, so fällt auch hier auf, dass viele Mitarbeiter die nicht gerade günstigen Uhren des Hauses selbst tragen. Zu gewissen Dienstjubiläen ermöglicht es Audemars Piguet seinen Angestellten, zu besonderen Konditionen eine Uhr zu erwerben.
Eine ganz besondere Uhr
Am Handgelenk eines der Uhrmacher der Grande Complication Abteilung entdecke ich dann sogar einen ewigen Kalender. Darauf angesprochen zeigt er mir nicht ohne gewissen Stolz seine Uhr.
„Seine“ Uhr im wahrsten Sinne des Wortes. Denn Tag für Tag blieb er nach Dienstschluss etwas länger um an ihr zu arbeiten. Besonderes Detail: der rotgoldene Aufzugsrotor. Er trägt seine Initialen. 1989-2004 ist am Bodendeckel eingraviert. Die Uhr zu seinem 15-jährigen Dienstjubiläum also.
Nächstes Jahr werden es somit 30 Jahre, die er hier in Le Brassus für Audemars Piguet arbeitet. Eine lange Zeit. Doch Zeit scheint hier oben eben äußerst relativ zu sein.
Der Raum, den es nicht gibt
Vor der Rückreise nach Genf steht noch ein kurzer Besuch in der hauseigenen Boutique an. Einen Ort, den es eigentlich gar nicht gibt und von dem ich leider auch keine Fotos machen darf. Wer einmal nach Le Brassus kommt, wird ihn kennenlernen, den Raum, in dem alle Uhren „zum Greifen nah“ sind.
Die Rückfahrt, erneut über die Passstraße in Richtung Nyon, holt mich dann langsam aber sicher wieder zurück in die Normalität, die Hektik der Moderne. Zeit für ein Refill des iPhone Akkus. Dieser versteht sich mit dem Direktions-Maserati, einem üppig ausgestatteten Quattroporte, der mich zurück zum Flughafen bringt, deutlich besser. Passt irgendwie auch mehr zu einer so traditionellen Marke, denke ich mir. Manchmal tut es eben auch ganz gut, gerade nicht allem vermeintlich Modernen nachzulaufen.
Fazit
Mein Fazit: als ich die Einladung nach Le Brassus erhielt, erwartete ich, dort eine hochmoderne, ultracoole, fast schon klinische Produktionsstätte vorzufinden. Hochmodern und ultracool sind bei Audemars Piguet zwar die Uhren, allen voran die Royal Oak, die Art, wie klassisch und traditionell diese jedoch auch heute noch gefertigt werden, hat mich extrem erstaunt. Die Uhren der Manufaktur jedenfalls sehe ich nun mit anderen Augen – und es macht mich seither noch ein Stück stolzer, eine von ihnen besitzen zu dürfen.
Hinweis zur Transparenz
Die Einladung zur Veranstaltung erfolgte auf Kosten des Herstellers. Eine redaktionelle Einflussnahme auf diesen Artikel fand nicht statt.
Fotos: © PCS 2018
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