Martin U Waltz gehört zu den bekanntesten Vertretern der deutschen Street-Photography-Szene. Seine Bilder zeigen das echte Berlin. Bilder einer Stadt, die permanent im Wandel ist. Nun erscheint mit Berlin Unseen ein Bildband, der beeindruckende Einblicke in die Fotografien der letzten zehn Jahre gibt.

Berlin Unseen - Martin U Waltz

Martin, seit über 18 Jahren gehörst Du zur Community von Luxify, hast unser Forum und unseren Blog mit vielen, schönen Fotos bereichert. Nun erscheint Dein neustes Buch „Berlin Unseen“. Was fasziniert Dich so an Deiner Stadt?

Berlin ist in gewisser Weise eine Zumutung. Laut, hässlich, schmutzig, immer kurz vor der Pleite und vieles funktioniert eher schlecht. Gleichzeitig hat diese Stadt immer den Andersdenkenden und den Kreativen Raum gegeben und damit diese Menschen auch angezogen. Der Spruch „Du bist verrückt mein Kind, du musst nach Berlin“ stammt aus dem 19. Jahrhundert. Und die Verrückten gestalten eben das kulturelle und soziale Leben in der Stadt.

Berlin ist auch immer eine Stadt in der Entwicklung, eine Stadt im Werden. Obwohl ich fast 40 Jahre hier lebe und wirklich viel rumkomme, kann ich nicht sagen, ich kenne Berlin. Die Stadt verändert sich laufend und schnell. Ich entdecke Berlin immer wieder neu. Und dann gibt es diese sehr fotogene Ästhetik des Hässlichen in Berlin. Das alles macht für mich den Reiz der Stadt aus.

Berlin Unseen - Martin U Waltz

Du bist nicht als Street Photographer auf die Welt gekommen. Was hat Dich herausgeholt aus einem ja doch eher klassischen Berufsleben in diese spezielle Form der Kunst?

Fotografie und ganz besonders Street Photography haben mich tatsächlich schon als Teenager fasziniert. Ich wusste nur nicht, dass es eine Kunstform Street Photography gibt. Ich hatte tatsächlich überlegt, Fotojournalist zu werden und habe mich dann doch für eine konservativere Laufbahn entschieden. Mit Anfang 50 war ich beruflich an einem toten Punkt. Ich konnte und wollte so nicht mehr weitermachen. Ich hatte mir diese kleine Kamera gekauft und angefangen, wieder auf der Straße zu fotografieren. Natürlich ging all meine Energie in das, was mich wirklich interessierte: die Fotografie auf der Straße. Und entsprechend schnell habe ich mich dort entwickelt.

Berlin Unseen - Martin U Waltz

Du veröffentlichst Deine Fotografien online, es gab diverse Ausstellungen in Galerien, und nun „Berlin Unseen“. Nicht das erste Buch mit Deinen Fotografien. Siehst Du Dich mehr in der digitalen oder in der analogen Welt zuhause?

Ich bin ein digitaler Boomer, ich konnte coden – wie man heute sagt, bevor ich das Thema mit den „Bienen und den Blüten“ so richtig umrissen hatte. Heute ist mein Workflow komplett digital und ich finde das gut so. Analoge Fotografie interessiert mich nur noch aus sentimentalen Gründen.  Zurück in die analoge Zeit möchte ich nicht. Gleichzeitig sind Bücher und Drucke wunderbare analoge Medien, um die eigene Fotografie wirken zu lassen. Kein Insta Feed erreicht je die Wirkung eines Fotobuches. Kein 8k Monitor wird je die Strahlkraft eines gedruckten Bildes erreichen.

Berlin Unseen - Martin U Waltz

„Berlin Unseen“ zeigt Fotografien, die in einem Zeitraum von zehn Jahren entstanden sind. Rückblickend betrachtet, wie würdest Du Deine Entwicklung in dieser Periode beschreiben?

Für mich war das eine sehr bewegende und bewegte Zeit. Ich nenne diese Periode für mich „Die letzten Partyjahre“. Als ich begann in Berlin zu fotografieren, war die Welt ziemlich unbeschwert. Wirtschaftsboom, viele Freiräume, Kreativität. Die Stadt im „arm aber sexy“ Rausch. Und ich mit meiner Kamera mittendrin. Im November 2019 war ich in Nizza, um meine Ausstellung zum 30. Jahrestag des Mauerfalls zu eröffnen. Zeitgleich zeigte der Apple Store in Berlin Bilder von mir zum gleichen Thema, die ich in Zusammenarbeit mit Apple gemacht hatte. Eine Ausstellung hatte das Goethe Institut finanziert, die andere eines der größten Unternehmen der Welt. Das war sicher ein Höhepunkt für mich.

Dann kam die Corona Pandemie und in Folge der Ukraine Krieg. Und mit einem Schlag ist die Party vorbei. Lockdown, Energiekrise, Inflation und die vielen Ängste, die damit einhergehen. Und so sind auch meine neueren Bilder zurückgenommen und distanziert.

Berlin Unseen - Martin U Waltz

Sprechen wir ein bisschen über Technik. Ich kann mir vorstellen, die Bilder in „Berlin Unseen“ über die Zeit sind mit einer Vielzahl von Kameras und Objektiven entstanden. Testest Du diesbezüglich noch immer gern Neues oder hast Du für Dich irgendwann Dein perfektes Equipment gefunden? Und wenn ja, wie sieht dieses aus?

Ich habe tatsächlich viel experimentiert und habe mit verschiedenen Kameras gearbeitet. Mit meinem jetzigen Setup bin ich sehr zufrieden. Für die Straße fotografiere ich mit einer Fuji X 100 V oder einer Ricoh GR III, beides kleine, sehr leistungsfähige Kompaktkameras mit Festbrennweite und APS-C Sensor. Daneben habe ich noch eine Sony A7 R III mit einer Reihe von Objektiven. Für mich sind Kameras und Objektive Werkzeuge, die ich gut und gerne bedienen können muss. Neues Material kostet Geld und Zeit zum Vertraut werden. Ich kaufe nur noch Neues, wenn ich das Gefühl habe, damit deutlich besser fotografieren zu können. Der Aufwand in Zeit und Geld muss sich also für mich rechnen. Das kommt immer seltener vor.

Berlin Unseen - Martin U Waltz

In meinem Job suche ich mir immer möglichst Zeiten zum Fotografieren, in denen keine Menschen zugegen sind. Laufe ich mit der Kamera durch ein Hotel oder über die Decks eines Kreuzfahrtschiffes, werde ich dabei oft eher kritisch beäugt. Street Photography aber lebt von den Menschen. Und meist bist Du ganz dicht dran an für Dich fremden Personen. Wie gehst Du da vor? War das anfangs schwer für Dich? Gab es dabei schon unangenehme Situationen?

Mich mitten in einen Pulk feiernder Fußballfans zu drängen, kostet auch heute noch Überwindung. Übung und Erfahrung helfen. Es ist ein bisschen, wie morgens bei 5 Grad im Halbdunkeln Laufen zu gehen. Ab einem gewissen Moment macht es Spaß, weil es eben ein Ausbruch aus dem normalen Verhalten ist, aber die ersten Meter sind hart. Und es gibt da Tage, da geht eben nichts. Dann ist das so.

Ich suche mir sehr genau aus, wenn ich fotografiere und wann ich fotografiere. Das vermeidet viele Konflikte schon im Vorfeld. Und wenn ich fotografiere, mache ich das ruhig, gelassen mit klar erkennbarer Kamera. Je entspannter ich bin, um so entspannter reagiert das Umfeld. Und wenn jemand mich bittet, ein gemachtes Bild wieder zu löschen, dann mache ich das auch. Es kommt aber wirklich selten vor. Richtige Probleme hatte ich nie. Das spielt sich auf der verbalen Ebene ab und nach knapp 40 Jahren Berlin kann ich da gut mithalten. Die positiven Begegnungen überwiegen jedoch bei Weitem.

Berlin Unseen - Martin U Waltz

Was wären Deine Tipps an jemanden, der durch „Berlin Unseen“ inspiriert wird und nun Street Photography selbst gerne einmal ausprobieren möchte? Was würdest Du raten und welche Fehler sollte man als Anfänger vermeiden.

Der erste Tipp ist einfach anfangen. Street Photography erlernt man in der Praxis. Tipp Nummer 2: die modernen Street Photography Klassiker wie Henri Cartier-Bresson, William Klein oder Robert Frank studieren. Und Tipp Nummer 3 schließlich, sich mit den elementaren Kompositionstechniken vertraut machen. Guter Bildaufbau ist wichtig.

Der größte Fehler ist, am Anfang tolle Bilder zu erwarten. Wer ein Instrument erlernt, spielt auch nicht sofort konzertreif. Oder wie der Straßenfotograf Bruce Gilden sagt: Erst lernt man krabbeln, dann gehen. Das Fotografieren auf der Straße kann unglaublich viel Spaß machen, auch wenn im Ergebnis keine Meisterwerke dabei herauskommen.

Berlin Unseen - Martin U Waltz

Du bist nicht nur in Berlin unterwegs. Auf Luxify finden sich beeindruckende Fotos aus Jerusalem und Tel Aviv, eine meiner Lieblingsserien sind die Seascapes, die Du in Nizza fotografiert hast. Gibt es ein Land, eine Stadt, einen Ort, der diesbezüglich noch ganz oben steht auf Deiner „Bucket List“?

Thailand und Japan interessieren mich sehr. Daneben möchte ich weiter an den Seascapes arbeiten und das bedeutet, die Meere dieser Welt zu bereisen. Ich werde in Zukunft deutlich mehr und länger reisen.

Berlin Unseen - Martin U Waltz

Das Aussuchen der Fotos für „Berlin Unseen“, diese in eine entsprechende Reihenfolge zu bringen, dürfte Dich eine ganze Weile beschäftigt haben. Nun erscheint Dein Buch Mitte März im Handel. What’s next? Erst einmal Pause oder hast Du schon das nächste Projekt vor Augen?

Nach dem Buch ist vor dem Buch. Berlin Unseen war eines von drei Büchern, die ich letztes Jahr auf den Weg gebracht habe. Ich denke, ich habe da ein bisschen Blut geleckt, was das Bücher machen angeht und auch etwas die Angst davor verloren. Das heißt, ich arbeite bereits mit einem guten Freund an einem neuen Buchprojekt.

Ich habe in der Stillstandsphase der Pandemie viel fotografiert, das will ich alles ordnen und online stellen und vielleicht noch einmal ausstellen. Im Sommer unterrichte ich für zwei Wochen an der Internationalen Dresdner Sommerakademie für Bildende Kunst, worauf ich mich sehr freue.

In gewisser Weise schließt Berlin Unseen eine Phase ab. Von daher habe ich auch ein paar Ideen jenseits der Fotografie. Ich habe mein berufliches Leben mit 50 drastisch verändert. Warum sollte ich das mit 60 nicht noch einmal machen? Schauen wir mal.

Berlin Unseen - Martin U Waltz

Weitere Infos und Links

Berlin Unseen von Martin U Waltz erscheint im Verlag teNeues und ist zum Preis von 29,90 Euro im Buchhandel bzw. bei Amazon erhältlich.

Berlin Unseen - Martin U Waltz

Fotos: © Martin U Waltz

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