Als ich in diesem Jahr auf dem Weg nach Basel war, hätte ich mit vielem gerechnet. Nicht aber, dass ich die größte Überraschung der Messe bei Tudor im Schaufenster finde! Direkt gegenüber dem Rolex Messestand stand sie da, ganz so, als wäre es die natürlichste Sache der Welt: die Uhr, die mit einem Mythos aufräumt, der Rolex Vintage Fans nicht nur in unserem Forum schon seit 15 Jahren beschäftigt.
Rolex U.S.Marine Ref. 1690 – die Uhr, die es nie gab?
Die Rede ist von einem Prototypen, den Rolex, respektive Tudor einst für die US Streitkräfte entwickelt haben soll. Über kaum ein anderes Modell gibt es so viele Gerüchte, wie über diese Uhr.
Wann genau die ersten Stücke der Taucheruhr mit ihren riesigen Bandanstößen und der Aufzugskrone bei 4 Uhr auftauchten, ist heute gar nicht mehr so einfach zu sagen. Das Auktionshaus Antiquorum jedenfalls versteigerte in seiner Genfer Auktion vom 24. April 2004 eine so genannte Rolex Oyster Perpetual Date „U.S. Marine“, Ref. 1690 (Link zum Katalog). Im damaligen Auktionstext ist die Rede von einem von insgesamt zwei Prototypen, die im Jahr 1982 für die US Marines gefertigt worden sein sollen. Versteigert wurde Lot 237 damals um 124.500 Schweizer Franken.
Tudor US Navy Ref. 7206 – Wahrheit und Mythos
Ein Jahr später, am 15. Juni 2005 kam eine optisch nahezu identische Uhr ebenfalls bei Antiquorum zur Auktion. Diesmal allerdings als Tudor Ref. 7206, als Prototyp für die US Navy, ebenfalls produziert 1982 (Link). Im Auktionstext ist bereits die Rede von drei Prototypen, die von Tudor herausgegeben worden sein sollen, dazu derer auf einmal vier von Rolex. Verkauft wurde die Tudor damals für 13.225 US-Dollar.
In den Folgejahren tauchten immer mehr dieser „seltenen Prototypen“ auf. Mal mit Rolex- und mal mit Tudor-Logo. Auch in unserem – damals noch recht kleinen – Forum wurden Mitgliedern Uhren dieser Art zum Kauf angeboten. Irgendwann wurde auch dem letzten „Vintage-Verrückten“ klar, dass der vermeintlich seltene Fund nichts weiter war, als ein zugegeben gut gemachtes Replikat aus einer Fälscherwerkstatt. Eine Fantasieuhr. Eine Uhr, die nie wirklich existierte. Oder – doch?
Patent CH 490706
Der einzig belastbare Fakt liegt in einer Patentanmeldung der Montres Rolex S.A. aus dem Jahre 1968 mit der Nummer 490706. Hierin wird eine Armbanduhr beschrieben, welche den im Umlauf befindlichen Fälschungen ziemlich gleicht, ja ihnen augenscheinlich als Vorlage diente. Massives, lang gezogenes Gehäuse, Krone mit Kronenschutz bei 4 Uhr, riesige, klappbare und über die Lünette reichende Bandanstöße. Also doch!
In den letzten Jahren wurde es ruhig um die Rolex 1690 bzw. die Tudor 7206. Ab und an tauchten noch Modelle in Online Auktionen auf, die großen Auktionshäuser jedoch verbrannten sich nicht mehr die Finger an diesen Stücken. Einschlägige Meinung jedenfalls: Rolex hat solch einen Prototypen einst gefertigt, in den freien Handel kam sowas allerdings nie. Sehen wird man das Original mangels öffentlich zugänglichem Museum auch niemals und dass es so etwas auch einmal von Tudor gegeben haben soll, das kann schon einmal gar nicht sein.
Tudor lüftet das Rätsel auf der Baselworld 2019
Dann kam die Baselworld 2019. Und sie stand da. Im Schaufenster. „Tudor Prototype – 1968“ war auf einem Schildchen neben der Originaluhr zu lesen. Es gab sie also doch. Und sie kam von Tudor. Nur von Tudor? Das wiederum ist eine Frage, die ich auf dem Pressetermin stelle.
Rolex-typisch gibt es darauf nicht DIE allumfassende Antwort. Bestätigen will man nur, dass Tudor, seit den 1950er Jahren Lieferant der US Navy, im Jahr 1967 mit der Entwicklung jenes Prototypen einer Taucheruhr mit dem Codenamen „Commando“ begann. Das Projekt wurde letztlich aber nie verwirklicht, die US Navy entschied sich für die damals neue Tudor Submariner 7016, Nachfolgereferenz der 7928.
Tudor Black Bay P01 und der Prototype „Commando“
Warum findet die Tudor Commando im Jahr 2019 wieder zurück in die Schaufenster der Baselworld? Der Grund hört auf die Referenznummer 70150 und ist mit Sicherheit eine der meistdiskutierten Neuheiten der Messe: die Tudor Black Bay P01.
Das Talking Piece der Baselworld 2019 ist nichts anderes als die Neuauflage, bzw. die überhaupt erste Serienproduktion des damaligen Protoypen. Das 42 Millimeter Gehäuse wurde zu erheblichen Teilen detailgetreu von der Commando übernommen, inklusive der verschraubten Aufzugskrone bei 4 Uhr.
Die vielleicht meistdiskutierte Neuheit 2019
Auch die Lünette trägt die für eine Taucheruhr eher wenig sinnvoll erscheinende 12-Stunden-Einteilung, mit deren Hilfe sich aber zumindest eine zweite Zeitzone recht unkompliziert ablesen lässt. Statt der historisch korrekten Mercedes-Zeiger allerdings vertraut man bei der P01 auf die eigentlich erst später eingeführten Snowflake-Zeiger, die inzwischen zum Kernmerkmal der Black Bay Familie geworden sind.
Die P01 unterscheidet sich aber noch in einem weiteren Detail ganz maßgeblich vom historischen Vorfahren: in jenem Lünettenmechanismus nämlich, welcher von Rolex 1967 eben zum Patent angemeldet wurde.
Die Unterschiede zum Prototyp von 1968
Die Funktionsweise der damaligen Erfindung war gleichermaßen simpel wie genial. Zwei große Bandanstöße überlappten die Verzahnung der Drehlünette. Auf deren Innenseiten waren die Anstöße ebenfalls mit Einkerbungen versehen, die somit in die Lünettenverzahnung griffen und so ein unbeabsichtigtes Verstellen effektiv verhinderten. Die Lünette selbst war auf einer Federung gelagert. Drückte man die Lünette nach unten, konnte man sie verstellen. Ließ man sie los, rastete die Verzahnung wieder in den Innenseiten der Anstöße ein.
Schmutz oder auch getrocknetes Salz nach Einsatz im Meer konnte die Funktionsweise der Lünette beeinträchtigen. Daher war eine leichte Reinigung wichtig. Hierfür konnte man bei entferntem Band beide Anstöße nach oben klappen, die Lünette entnehmen und die Teile der Uhr entsprechend säubern.
Bei der Neuauflage anno 2019 geht Tudor einen anderen Weg. Zwar überlappen auch bei der P01 beide Anstöße die Verzahnung der Lünette, doch verfügt nur der obere Anstoß bei 12 Uhr über eine Gegenverzahnung. Auch lässt sich die Lünette nicht mittels Druck auf eine darunterliegende Feder verstellen sondern durch das Hochklappen des oberen Anstoßes. Dafür funktioniert dies nun aber, ohne zuvor das Band abnehmen zu müssen.
Nur ein Klick auf den oberen Bandanstoß und er klappt nach oben. Der Mechanismus ist erstaunlich simpel zu bedienen und es macht Spaß, mit dieser Funktion herumzuspielen. Überraschend ebenfalls, wie gut die P01 trotz ihrer doch recht stattlichen Länge am Arm sitzt. Die Anstöße winkeln sich gut ab und passen sich dank des zweiteiligen Aufbaus auch an Handgelenke abseits derer eines Marinetauchers an.
Hybridarmband aus Leder und Kautschuk
Als Band vertraut Tudor auf ein Hybridarmband aus schwarzem Kautschuk, dessen Oberseite mit einer Einlage aus braunem Leder versehen ist. Verbaut ist eine Sicherheitsfaltschließe, weitere Bandoptionen stehen derzeit nicht zur Verfügung.
Auch in der P01 kommt das bereits aus anderen Black Bay Modellen bekannte Tudor Manufakturkaliber MT5612 zum Einsatz. Das Automatikwerk mit COSC Zertifizierung verfügt über eine Gangreserve von ca. 70 Stunden und ist mit einer amagnetischen Siliziumfeder ausgestattet.
Die Frage nach dem „Warum?“
Nun, da wir die historischen und technischen Seiten hinter uns haben, kommen wir zur eigentlichen Hauptfrage. Braucht es heute so eine Uhr? Warum bringt man 2019 einen Prototypen in Serie, der über 50 Jahre in den Archiven geschlummert hat? Eine Taucheruhr noch dazu, die auf Grund des Lünettendesigns nicht einmal als solche genutzt werden kann! Eine auf den ersten Blick viel zu große, unförmige Uhr im Vintagedesign, ja fast ein 1:1 Klon des Originals, nur dann auch noch unter Verzicht genau der Funktion, die das Modell damals so revolutionär hätte machen sollen.
Bei der Antwort auf diese Fragen schwanke ich seit Eröffnungstag der Baselworld zwischen einem „Warum nicht?“ und einem „Weil man’s kann!“. Dass Tudor sich gerne an historischen Vorbildern bedient ist inzwischen schon einige Jahre bekannt. Der Erfolg gibt ihnen dabei Recht. Von einer wenig beachteten Seitenmarke im Schatten der großen Mutter Rolex hat man sich zu einer jungen Brand gemausert, die gute Uhren zu mehr als fairen Preisen auf den Markt bringt. Die P01 passt als Ausnahmeuhr der Black Bay Reihe da perfekt hinein.
Wobei wir im Grunde auch fast schon bei meinem abschließenden Fazit wären. Bevor es das gibt, allerdings erst noch einmal die offizielle Preisempfehlung der Tudor Black Bay P01. Diese liegt in Deutschland bei 3.680 Euro. Ausgeliefert soll die Ref. 70150 dann ab Juli 2019 werden.
Fazit
Mein Fazit: die Reaktionen auf Tudors neue P01 waren äußerst gespalten. Ich für meinen Teil bin da ein wenig voreingenommen. Mich hat das Aussehen dieses Prototyps schon vor 15 Jahren fasziniert. Die Möglichkeit, so eine Uhr nun tatsächlich am Arm tragen zu können, übertrumpft daher auch alle möglichen Zweifel ob der Sinnhaftigkeit dieser Neuauflage. Ich finde die Tudor Black Bay P01 eine gelungene Neuheit, obgleich ich die Abkehr vom einst patentierten Lünettenwechselsystem ein wenig schade finde. Einzig in einem Punkt sollte Tudor unbedingt noch nachlegen: diese Uhr schreit förmlich nach deutlich mehr, deutlich unterschiedlicheren Bändern. Tropic Rubber, Nato Strap, Zulu, Velcro – hier würde ich mir gerne zeitnah noch die ein oder andere Variation wünschen.
Datenblatt:
- Modell: Tudor Black Bay P01, Ref. 70150
- Gehäuse: 42 mm, Edelstahl, wasserdicht bis 200 Meter, gewölbtes Saphirglas
- Zifferblatt: schwarz, matt, gewölbt, Indexe mit Leuchtmasse, Zeiger mit Leuchtmasse
- Armband: Hybridarmband aus Kautschuk mit Ledereinlage in Braun und Sicherheitsfaltschließe
- Uhrwerk: Manufakturwerk, Kaliber MT5612 (COSC), Automatik, 28.800 A/h (4 Hz), ca. 70 Stunden Gangreserve
- Funktionen: Stunde, Minute, Zentralsekunde mit Sekundenstopp, Fensterdatum bei 3 Uhr mit Schnellkorrektur
- Preis: 3.680 Euro
- Erhältlich ab: Juli 2019
Fotos: © Tudor (3), Antiquorum (3), Archiv (1), PCS (15)
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