Der Große Preis von Italien war 1922 von Brescia ins gerade neu erbaute Autodromo nach Monza abgewandert. Der italienische Graf Aymo Maggi überlegte nun, wie er den Motorsport zurück in seine geliebte Heimatstadt holen konnte – immerhin hatten Automobilrennen in Brescia eine Tradition seit der Jahrhundertwende. Zusammen mit ein paar weiteren autoverrückten Lombarden ersann man in einer feuchtfröhlichen Nacht die Mille Miglia – 1000 Meilen von Brescia nach Rom und zurück.

Dieses berühmt-berüchtigte Rennen zählte von 1927 bis 1957 zu den prestigeträchtigsten Veranstaltungen, die der Motorsport je zu bieten hatte. Für einige Fahrer hatte ein Sieg bei den 1000 Meilen einen größeren Stellenwert als eine Formel-1-Weltmeisterschaft. Andere packte alleine beim Gedanken daran die blanke Angst. Ein Straßenrennen von rund 1600 Kilometern Länge, über Landstraßen und Schotterpisten, durch Ortschaften, entlang der Adriaküste, über Gebirgspässe und die endlosen Geraden der Po-Ebene. Die Teilnehmer hatten auf dieser schwierigen Strecke nicht nur mit etwa 500 Gegnern, ihren Autos und sich selbst zu kämpfen, sondern nicht selten auch mit hunderttausenden Zuschauern, Temperaturunterschieden von 20 Grad sowie ahnungslosen Eselskarren entlang des Weges.

Stirling Moss

Der junge Stirling Moss

Dem 1929 in London geborenen Stirling Moss wurde der Rennsport in die Wiege gelegt. Vater und Mutter waren erfolgreiche Amateur-Piloten und seine Schwester Pat sollte zu einer der erfolgreichsten Frauen aufsteigen, die je im Rallye-Sport aktiv waren. Der Star der Familie war aber zweifellos der junge Stirling. Mit 20 bestritt erst sein erstes offizielles Rennen und bereits vier Jahre darauf berief ihn ein beeindruckter Alfred Neubauer ins Grand-Prix- und Sportwagen-Team von Mercedes-Benz. Kurz vor Weihnachten des Jahres 1954 – die Tinte auf dem Vertrag war noch nicht ganz trocken – klingelte das Telefon bei Denis Jenkinson, einem Korrespondenten der altehrwürdigen, britischen Zeitschrift Motor Sport. „Would you be my navigator on the Mille?“ schallte es aus dem Telefon. Jenks – wie ihn seine Freunde nannten – erkannte Stirling Moss am anderen Ende der Leitung und witterte die Chance seines Lebens. „Yes!“

Jenks hatte drei ganz besondere Vorzüge. Er kannte den Motorsport wie kein zweiter, war nur 1.58 groß und federleicht. Er besaß aber auch ein ganz besonderes Handicap: Er litt unter der Autokrankheit, ihm wurde schlecht. Sein Arzt stellte ihm zwei Medikamente zur Auswahl, mit sehr unterschiedlichen Nebenwirkungen: Müdigkeit oder Verstopfung. „Easy“ muss er sich gedacht haben und wählte letzteres – zwei Fliegen, eine Klappe.

5 SLR

3 SLR

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Der 300 SLR in der Mille-Miglia-Ausführung

Obwohl es der Name vermuten lässt, hatte der neue 300 SLR mit Mercedes´ berühmten 300 SL so gut wie nichts gemein. Wie das interne Kürzel W196S verrät, war der Rennsportwagen vielmehr eine Abwandlung des Silberpfeils, also die Straßenversion eines Formel-1-Boliden. Der Reihenachtzylinder mit Direkteinspritzung und desmodromischer Ventilsteuerung bezog seine 300 PS nun aus 3 Litern Hubraum, im Gitterrohrrahmen schaffte man Platz für einen zweiten Sitz und versah das Ganze mit einer stromlinienförmigen Aluminium-Magnesium-Karosserie.

Zweifellos ein vielversprechendes Auto, doch Stirling und Jenks wussten, dass es gegen die Italiener sauschwer werden würde. Die Herren Castellotti, Maglioli und Taruffi zählten nicht nur zu den besten Fahrer ihrer Zeit und hatten einen Ferrari unterm Hintern, sondern kannten als Locals schlichtweg die Strecke besser. Um dieser scheinbar unbezwingbaren Übermacht Herr zu werden, setzten die Briten auf eine Taktik, die den Italienern weitgehend unbekannt war: akribische Vorbereitung. Die beiden absolvierten drei Trainings-Sessions mit jeweils mehreren Runden der 1000 Meilen. Dafür erhielten sie von Mercedes drei Autos: Einen 300 SL für´s flotte vorankommen, einen SLR für den gelegentlichen Ausritt in die Realität des Rennens und eine 220A Limousine für die gepflegte Unterhaltung.

Mille Miglia

6 Neubauer

Moss und Jenks stets konzentriert, ebenso wie Teamchef Neubauer

Was Copilot Jenkinson während dieser Fahrten entwickelte, sollte bald darauf den Rallye-Sport revolutionieren. In ihren „Pacenotes“ wurde die Strecke haargenau dokumentiert und auf einem meterlangem Stück Papier niedergeschrieben. Diese scherzhaft „toilet roll“ genannten Aufzeichnungen verstaute Jenks in seiner „roller map“, einer kleinen Blechdose mit Fenster und Kurbelmechanismus. Einige alte Italiener, die dieses seltsame „Buch“ entlang der Strecke zu Gesicht bekamen, behaupteten später, der Engländer habe dem Fahrer aus der Bibel vorgelesen. Halleluja!

Nun ging es an die Art der Kommunikation. Erste Versuche mit einem Intercom erwiesen sich als fruchtlos. Als Stirling sich nach einer Testfahrt beschwerte, sein Beifahrer habe kein Wort über die Beschaffenheit der Strecke verloren, erwiderte Jenks empört, er habe nicht eine Sekunde die Klappe gehalten. Der SLR war einfach nicht für verbale Verständigung gebaut, er war zu laut. Eine weitere, medizinische Erklärung des Phänomens wurde erst später gefunden: Moss fuhr über Stunden auf einem derart hohen Level der Konzentration, dass sich seine weniger benötigten Sinne zeitweise komplett ausgeschaltet haben, darunter das Gehör. Also entwickelten die beiden ein System von acht Handzeichen: „Vollgas, rechts, links, glatter Untergrund, unebener Untergrund, hartes Bremsen, härteres Bremsen und gleich werden wir beide sterben“. Mehr braucht´s nicht!

1 Fangio

Mille Miglia

Der Start von Fangio um 6:58 und Moss um 7:22 Uhr

Viele der Italiener gingen ohne Copilot an den Start (Haudegen Giovanni Bracco soll bei seinem Sieg 1952 lediglich einen Beifahrer angeheuert haben, um ihm während der Fahrt beim Konsum von zwei Flaschen Chianti und vier Päckchen Chesterfield zu attestieren). Aber die Wahl von Denis Jenkinson sollte sich noch als absoluter Glücksfall herausstellen. Am Abend des 1. Mai starteten die ersten Teilnehmer, und zwar – eine weitere Besonderheit der Mille Miglia – die langsamen Autos zuerst, stets im Abstand von einer Minute. Im Morgengrauen des nächsten Tages kamen die großen „Big Banger“ an die Reihe, Ferrari, Maserati, Mercedes. Die Startnummer gab dabei die exakte Zeit an, Moss rollte also um 7:22 Uhr von der Rampe.

Eugenio Castellotti fuhr wie der Teufel und machte auf der ersten Etappe die Pace. Fast jede Kurve markierte er mit langen schwarzen Strichen seines privaten 4.4 Liter Ferrari. Aber er übertrieb es und schied bald mit technischem Defekt aus. Auf der zweiten Etappe machte der „Silberfuchs“ Piero Taruffi auf sich aufmerksam. Alle bisherigen Streckenrekorde nach Pescara pulverisierten in der Staubwolke des Ferrari 121 LM. Kurz hinter Rom musste aber auch er aufgeben, die Ölpumpe hatte versagt. Sein Teamkollege Marzotto hatte ebenfalls einen vielversprechenden Start. Nachdem ihm jedoch bei 280 Sachen ein Reifen platzte und er den Wagen auf heroische Weise auf der Straße hielt, musste er feststellen, dass der mitgeführte Ersatzreifen eine andere Größe hatte als die montierten Räder – man munkelte sein Mechaniker sei dem Alkohol verfallen gewesen. Von der gefürchteten Ferrari-Armada war also nur noch Umberto Maglioli im Rennen.

Mille Miglia

So sahen den Mercedes die meisten: von hinten

Weitere Konkurrenz erwuchs durch die drei anderen SLR im Rennen, Fangio, Kling und Herrmann. Karl Kling musste einem Zuschauer ausweichen und setzte seinen Mercedes vor einen Baum, out. Hans Herrmann fuhr ein geniales Rennen und war Moss auf den Fersen. Sein Beifahrer hatte ihm noch geraten: „Schone das Auto, dann hast du vielleicht eine Chance. Der Moss wird derart bolzen, dass ihm hintenraus die Bremsen ausgehen“. Doch in den Bergen der Apenninen tat es einen großen Schlag und die beiden wurden mit einer beißenden Flüssigkeit überschwemmt. Sie hatten den Tankdeckel verloren. In jeder Kurve, bei jeder Bremsung kam eine neuer Schwall Super in den Innenraum. Schließlich lief Herrmann die Suppe sogar in seine Rennfahrerbrille. Man gab auf, es wurde einfach zu gefährlich.

Naturgemäß begann sich die Konkurrenz zu dezimieren, ein wenig Glück gehörte immer dazu. Doch es war nicht Glück allein, Stirling Moss begann das Rennen seines Lebens zu fahren. Jenks berichtete später immer wieder von einem für ihn besonders surrealen Ereignis: Stirling fuhr den Mercedes auf einer kurvigen Umgehungsstraße derart entfesselt, dass man eine zweimotorige Propellermaschine überholte, die die gleiche Strecke in gerader Linie überflog. Einige Augenzeugen behaupteten daraufhin, Moss sei den Mercedes eben auch nicht gefahren, sondern geflogen.

Mille Miglia, 1955

Mille Miglia

Der „Flug“ von Brescia nach Rom und zurück

Es gibt zwei alte Mille-Miglia-Weisheiten: „Wer in Rom führt, verliert“ und „Willst du gewinnen, fahre langsam“. Moss sollte sie beide Lügen strafen. Die Engländern jagten von einem Etappenrekord zum nächsten, die Führung seit der Halbzeit in der ewigen Stadt wurde nicht mehr abgegeben. Sowohl der „Kuss“ mit einem Strohballen, der die Front des Wagens lädierte als auch die Tatsache, dass Jenks sich hin und wieder übergeben musste, konnte die Briten nicht aufhalten. Nicht zuletzt wegen ihrer genialen Pacenotes knallte Moss den Wagen mit vollstem Vertrauen in die Handzeichen seines Beifahrer und Vollgas durch noch so unübersichtliche Kurven als gäbe es kein Morgen.

Nachdem man Brescia um 7:22 verlassen hatte, tauchte der silberne Mercedes dort um 17:29 wieder auf. 1600 Kilometer anspruchsvollster Landstraße in 10 Stunden und 7 Minuten, mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 158 km/h. Ein Rekord für die Ewigkeit! Zum Vergleich: der Schnitt des Grand Prix von Monaco liegt aktuell bei etwa 145 km/h, gefahren über maximal anderthalb Stunden und auf einer gesicherten Strecke.

Mille Miglia

Mille Miglia

Dreckig, aber glücklich: Die Sieger

Fangio im Schwester-SLR wurde Zweiter, Maglioli im Ferrari kam auf den dritten Platz. Die Mille Miglia wurde zwei Jahre später nach dem verheerenden Unfall des spanischen Aristokraten Alfonso de Portago für immer aus dem Kalender der Sportwagenweltmeisterschaft gestrichen. Die Motorsport-Saison 1955 ist bis heute die erfolgreichste in der Geschichte von Mercedes-Benz. Hierauf zogen sich die Stuttgarter für viele Jahre aus dem Rennsport zurück. Der SLR mit der Chassisnummer 0004 steht im Werksmuseum, signiert mit den Worten „We did it together. My thanks and affection“. Denis Jenkinsons später verfasster Artikel „With Moss in the Mille Miglia“ gilt nach wie vor als ein Höhepunkt des Motorsport-Journalismus.

2 SLR

23.04.2015_Classic Insight “Erfolgsgeschichten 1955“

Stirling und 722 – ein Bund, der Geschichte schrieb

Stirling Moss stand an diesem Frühlingstag im Mai vor 60 Jahren scheinbar mit den Göttern im Bunde. Sein Sieg bei den 1000 Meilen von 1955 wird immer wieder als die epischste Fahrt in der Geschichte des Motorsports skizziert. Der Rennfahrer und Journalist Alain de Cadenet umschrieb diese Leistung weniger pathetisch, sondern schlicht und einfach mit drei Worten: „nothing comes close“.

Text: © Carl C. Bauer  (CarloBianco) 2015
Fotos: © Mercedes-Benz

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