Darf ich vorstellen? Das ist Martin (Name von der Redaktion geändert). Martin ist der Traum von einem Mann. Zumindest in den Augen der Schweizer Uhrenindustrie. Martin verdient nicht schlecht. Und er liebt Uhren. Eine äußerst glückliche Kombination.

Mindestens einmal im Monat besucht Martin seinen Stammkonzessionär. In bester Citylage. Meistens samstags. Während seine Frau die umliegenden Dependancen begehrter französischer Designermarken unsicher macht, sitzt Martin bei seinem Lieblingsverkäufer. Er spricht über Uhren. Und er trinkt ein Glas Champagner. Manchmal auch zwei. Sein Lieblingsverkäufer, nennen wir ihn der Einfachheit halber Herr Schmidt, erzählt ihm, was auf den Messen in Genf und Basel alles präsentiert wurde, was so die Trends sind, was man in diesem Jahr einfach am Handgelenk haben MUSS.

Martin lauscht gebannt, legt sich die ein oder andere Pretiose um den Arm und, je nachdem, wie so der Bonus ausfällt, verlässt Martin eine Stunde später, angenehm angeheitert, das Geschäft mit einer prall gefüllten Einkaufstüte.

Alle sind glücklich. Das Leben ist schön. Für Martin. Für Herrn Schmidt. Für die Schweizer Uhrenindustrie.

Martin und Herr Schmidt

Mit Martin hätte das auf ewig so weitergehen können. Das wäre schön gewesen. Für Herrn Schmidt. Und die Schweizer Uhrenindustrie. Doch dann, irgendwann, kommt, was kommen muss. Die Zeiten sind schlecht, der Bonus bescheiden. Gepaart mit den in schöner Regelmäßigkeit eintretenden Preiserhöhungen, bekommt Martin ein Problem. Um sich eine weitere neue Uhr leisten zu können, muss Martin eine vorhandene Uhr verkaufen.

Herr Schmidt reagiert mit nur verhaltener Begeisterung, als Martin ihn mit seinem etwas ungewöhnlichen Anliegen konfrontiert. Uhren ankaufen? Sowas mache man hier nicht, erklärt Herr Schmidt, während er die wie gewohnt bereits mit der Champagner-Flasche herbeieilende Kollegin gerade noch mit bösem Blick von ihrem Vorhaben abhalten kann.

Er solle es doch mal im Internet versuchen, erklärt Herr Schmidt mit väterlicher Stimme, während er Martin zur Tür geleitet. In und um das ferne Genf ist ein Donnerhall zu hören. DAS! INTERNET!

Das böse Internet

Martin schaut dann mal ins Internet. Einmal, zweimal, dreimal. Immer öfters, immer länger. Und das, was er da liest, das gefällt ihm. Statt samstags in bester Citylage, informiert er sich von nun an lieber jeden Abend auf der Couch über sein Lieblingsthema. Welche Neuheiten präsentiert werden, das liest er hier schon am selben Tag. Was Gleichgesinnte darüber denken, kann er auf Blogs nachlesen, in Foren diskutieren.

Mehr noch: seine gebrauchte Uhr, die hat er hier auch recht schnell verkauft. Und wo er grad dabei ist, schaut er auch gleich mal nach dem neuen Objekt der Begierde. Ja sapperlot! Die gibt’s ja auch online! Und sogar ein ganzes Stück billiger! Was ist denn jetzt das?

Erneut grollt es am Himmel in und um Genf. Martin hat die Dunkle Seite entdeckt. Den GRAUMARKT!!!

Der freundliche Gerd

Es kommt, wie es kommen muss. Als kühler Rechner setzt Martin den entgangenen Konzessionärs-Champagner in Relation zum eingesparten Geld und sieht Herrn Schmidt von nun an maximal noch, wenn er eine seiner Uhren zum Service abgibt.

Martin ist glücklich. Herr Schmidt weniger. Und die Schweizer Uhrenindustrie? Ignoriert das Geschehen. Was kümmert’s uns, sagt man Herrn Schmidt bei der nächsten Unterhaltung, bei der er die sinkenden Umsätze rechtfertigen soll.

Während Martin also weiter seine Uhren kauft, muss Herr Schmidt schauen, wie er Umsatz macht. Willkommen sind da auf einmal Leute wie der freundliche Gerd. Der kommt mit einem Koffer voller Geld und macht Herrn Schmidt ein Angebot, das er nicht ablehnen kann. All die ganzen Modelle, die teils schon seit Jahren unverkäuflich im Safe liegen, die Kapital binden – der freundliche Gerd nimmt sie im Paket. Zusammen mit ein paar begehrteren Stücken natürlich. Und zu einem Preis der, „Weisst eh“, gerade so oberhalb der Schmerzgrenze liegt. Gerade so, dass das Geschäft für Herrn Schmidt eben noch erträglich bleibt.

Goldgräberstimmung in und um Genf

Als Martin die nächste neue Uhr im Internet kauft, staunt er nicht schlecht. Denn die Uhr stammt – aus bester Citylage. Von seinem Lieblingsverkäufer. Wir ahnen es schon: Martin hat beim freundlichen Gerd gekauft. Zu einem Preis, den ein Herr Schmidt ihm selbst niemals gemacht hätte. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass Martin bei dem ja keine Uhr in Zahlung hätte geben können. Mit dem freundlichen Gerd hingegen geht alles. Das kann doch nicht sein, denkt sich Martin ob dieses Systems.

Und auch in und um Genf beginnt man nachzudenken. Denn die Lager sind voll, die Preise bis zur Schmerzgrenze der Kunden und darüber hinaus ausgedehnt, die Handelspartner verzweifelt. Irgendwie, sagen sich die Herren in den Chefetagen, kann das so doch nicht weitergehen. Warum eigentlich, machen wir das mit diesem Graumarkt, nein, nennen wir es besser „Secondary Market“, nicht selbst?

Augenblicklich macht sich Goldgräberstimmung breit. Wir machen das jetzt einfach. Wir nehmen dem Martin seine gebrauchte Uhr in Zahlung. Wenn er sich ’ne Neue kauft. Also bei uns. Oder bei Herrn Schmidt. Aber nicht beim freundlichen Gerd. Denn den, den machen wir platt.

Happy End?

Und auch Herr Schmidt horcht auf. Denn Uhren, die sein Lager füllen, die er einfach nicht an Martin & Co. verkaufen kann, die muss er zukünftig nicht mehr mit schmerzendem Herzen dem freundlichen Gerd in die Hand drücken, die kann er einfach – zurückgeben! Ganz so, als seien sie nie dort gewesen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Das gefällt. Soll Genf und Umgebung doch dann schauen, was sie mit dem ganzen Plunder machen. Einschmelzen, in andere Märkte schicken oder als „junge Gebrauchte“ im Internet verkaufen.

Die Schweizer Uhrenindustrie wittert rosige Zeiten. Herrn Schmidt fällt ein Stein vom Herzen. Der freundliche Gerd lehnt sich erst einmal abwartend zurück und schaut sich die ganze Sache genüsslich an. Und Martin? Mal schauen, ob wir ihn zukünftig samstags wieder öfters in bester Citylage antreffen. Bei einem Glas Champagner. Oder auch zwei.

Disclaimer: alle Protagonisten dieser Handlung sind selbstverständlich frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten zu tatsächlich existierenden Personen oder Unternehmen wären rein zufällig. Ebenso erfolgte die Bildauswahl zu diesem Artikel rein nach ästhetischen und keinesfalls nach inhaltlichen Gesichtspunkten… 😉

Fotos: © PCS 2017-2018

Kommentare