Neun Stunden, 7.000 PS, eine Uhr für eine Million und – eine Erkenntnis: wenn es eine Situation gibt, in der man sich mit „seinem“ McLaren nicht wiederfinden möchte, so ist das inmitten einer Demonstration von hunderten, ja vielleicht sogar tausend Systemkritikern.
Ausfahrt mit McLaren 720S und McLaren GT
Nieder mit den Reichen, Freiheit für Alle, ein Glück ist mein Französisch so schlecht, dass ich nicht alles verstehe, was auf den Fahnen, Bannern und Plakaten steht, die da um mich herumgetragen werden. In jedem Fall aber erscheint mir dies hier gerade so ganz und gar nicht der richtige Ort für einen, respektive zwei britische Sportwagen. Aber beginnen wir am Anfang.
Dem beeindruckenden McLaren Speedtail entstiegen (mehr dazu in Teil 1 dieses Berichts), muss ich mich sogleich auch wieder meiner „Million-Dollar-Watch“ entledigen. Dann geht’s zum nächsten Programmpunkt. Der Ausfahrt.
5x 720 PS, 5x 620 PS, 1x 1.070 PS
Zwei Modelltypen hat McLaren zu diesem Zwecke herbeigeschafft. Den – wie der Name schon sagt – 720 PS starken Supersportwagen McLaren 720S, sowie den Grand Tourer McLaren GT mit „nur“ 620 PS.
Jeweils fünf dieser Gefährte warten vor dem Hotel, für mich steht ein McLaren 720S Spider in Flux Silber bereit. Neben den in orangenen und blauen Sonderfarben der McLaren Special Operations (MSO) lackierten Modelle, sieht mein 720S geradezu brav aus. Dennoch, die Farbe steht der Form des Boliden aus Woking enorm gut.
Das Einsteigen ist diesmal kein Problem. Schließlich könnte man mich da mittlerweile sogar fast schon als „alten Hasen“ bezeichnen. Und auch die ideale Sitzposition ist schnell gefunden. Erstaunlich bequem, diese Sitze. Kamera befestigen, Verdeck auf und auf die Einweisung der Instrukteure warten, dann geht’s los in Richtung französische Alpen.
Der Wettergott ist ein Sadist!
Der strahlende Sonnenschein des frühen Morgens hat sich bereits hinter einem Wolkenband verabschiedet und nach wenigen Minuten Fahrt setzt denn auch zuverlässig der Regen ein. Was für ein Jammer! Verdeck also wieder zu. Das geht glücklicherweise blitzschnell und auch während der Fahrt.
„Magst Du nicht das Navi Deines Handys benutzen?“ fragte man mich vor der Fahrt. Im ersten Baustellen-Kreisverkehr verstehe ich die Frage. Das McLaren Navi ist, wie drücke ich es jetzt am besten aus, ein wenig gewöhnungsbedürftig. Aber mit dem iPhone wird gefilmt, das kann ich also auch nicht nutzen. Daher Augen zu und durch. Nach einer kurzen Irrfahrt am Genfer Flughafen finde ich dann doch noch die Auffahrt auf die Autobahn.
McLaren 720S – 720PS für Schweizer Autobahnen
Es entbehrt ja nicht einer gewissen Ironie, ein 720 PS Auto ausgerechnet auf Schweizer Autobahnen bewegen zu dürfen. Insofern kommt der Regen also gerade Recht, mich von schwer illegalen und noch schwerer finanzierbaren Geschwindigkeiten abzuhalten.
An der Grenze wartet dann auch schon die nächste Herausforderung auf das nicht einmal 1,20 Meter hohe Gefährt. Bumper. Um diese zu bewältigen, findet sich am Lenkstock ein Hebel, mit dessen Hilfe man den 720S „hochpumpen“ kann. Wie sich zeigt ist dies bei den typischen Schwellen hier allerdings gar nicht nötig. Erstaunlich alltagstauglich, der Gute. Ich muss sagen, einmal mehr begeistert zu sein.
In Frankreich wartet mit der ersten Mautstelle dann aber doch noch ein unvorhergesehenes Hindernis auf mich. Eigentlich ist mein Bolide ja mit einem Télépéage Sender ausgestattet. Nur mag der Schranken (für alle, die sich jetzt wundern, das ist Österreichisch) partout nicht aufgehen. Stattdessen wartet ein Papierticket darauf, abgezogen zu werden.
Tücken des Alltags – am Steuer eines McLaren
Nichts einfacher als das. In einem normalen Auto. In einem Supersportwagen durchaus eine Herausforderung. Körperlich. Hinter mir wird bereits wieder das Smartphone gezückt ob des vermeintlich unfähigen Millionärsschnösel da vorn am Steuer. Man hat’s aber auch nicht leicht!
Durchs Fenster? Keine Chance. Also Tür auf. Aber Vorsicht. Denn die schwingt nicht nur nach oben, sondern auch ein wenig zur Seite. Also bloß aufpassen, nicht irgendwo anzuecken. Mit den Fingerspitzen erreiche ich ganz knapp das Ticket. Es kann also weitergehen.
Bei der nächsten Mautstelle lasse ich lieber einem Kollegen im blauen 720S den Vortritt. Er nimmt die Télépéage Spur, der Schranken, okay, okay, die Schranke öffnet sich. Perfekt. Also nix wie hinterher.
Tja. Satz mit X. Das war nix. Schranke bleibt zu und ich habe keine Chance, aus meiner dann doch recht asphaltnahen Sitzposition den anscheinend nur für SUVs optimierten Hilfeknopf zu drücken. Tür auf vielleicht? Nein, genug der kläglichen Versuche. Einfach locker und lässig aussteigen. DAS kann ich ja nun wirklich. Sache klären, mit forschem Hüftschwung wieder einsteigen und – ab geht’s. Theoretisch.
Praktisch passiert erstmal nix. In hilflosem Englisch-Französisch-Mischmasch versuche ich zu verstehen, wo das Problem liegt. Ich müsse zurücksetzen und an eines der Kassenhäuschen fahren. Na super. Das Positive, wenn einem solch ein Malheur in einem McLaren passiert: niemand hupt, niemand ist genervt. Auch das Fahrzeug hinter mir setzt erst zurück, als Fahrer wie Beifahrer genügend belastendes Video- und Bildmaterial des „Deppen da vorne“ zusammen haben. Beide lächeln dabei aber freundlich und winken. Immerhin.
Was piepst denn hier die ganze Zeit?
Das Zurücksetzen gestaltet sich ein wenig unentspannter als gedacht. Zwar ist das Fahrzeug mit einer 360° Birdview Kamera ausgestattet, nur lassen einen die permanent piepsenden Parksensoren letztlich doch immer wieder zweifeln, ob da nicht doch irgendwas im Wege liegt. Generell melden sich diese immer wieder, bei langsamer Fahrt, ja sogar im Stehen. Warum auch immer.
Beim anschließenden Anpeilen einer der Spuren mit Kassenhäuschen merke ich, dass ich nicht alleine bin mit meinen Problemen. Und so legen letztlich gleich drei McLaren gleichzeitig die dortigen Spuren lahm. Auch das ein für die anderen Autofahrer sicher alles andere als alltäglicher Anblick.
Die Sportmodi im McLaren
Wenige Kilometer später geht es von der Autobahn hinauf auf halbwegs leere Bergstraßen. Das Wetter wird besser, also Dach wieder auf und vom Comfort- zunächst in den Sport- und letztlich in den Track-Modus wechseln. Bei McLaren kann man diese Modi sowohl für Handling (H) als auch für Powertrain (P) unterschiedlich wählen.
So bleibt das Handling in meinem Fall besser erst einmal im sicherheitsorientierten C-Modus die Soundkulisse aber wechselt auf Rennstreckentauglich. Und mit ihr – das Display. Wie von Geisterhand klappt es sich ein und lässt nur einen schmalen Streifen für die wichtigsten Anzeigen aufleuchten. Eine extrem coole Spielerei.
Der Sound mit seinen ab und an eingeworfenen und in diesem Fall so gar nicht programmiert erscheinenden Fehlzündungen, dazu die sportliche, aber nie überfordernde Kurvenlage machen mir sofort unglaublichen Spaß. Der 720S sitzt wie der sprichwörtliche Turnschuh und wäre ich waschechter Automobiljournalist, ich würde hier noch Dinge wie „auf Schienen“ und andere unabwendbare Phrasen einstreuen.
Bei mir aber drückt sich der Fahrspaß eher in der Breite meines Grinsens aus. Und das – ist ziemlich breit. Ich würde sagen, wir liegen hier definitiv bei 10 von 10. Mindestens. Komm, eine Phrase geht noch: ich merke nämlich, wie ich zusehends Eins werde, mit der Maschine. Jawoll.
Selten verursacht ein Auto so viele positive Reaktionen
Nun sind wir hier aber ja selbstverständlich nicht zum Spaß! Zeit also für ein paar Fotos. Ein kleines, verschlafenes Bergdorf kommt da gerade recht. Der McLaren zieht sofort einige (männliche) Dorfbewohner aus ihren Häusern. Autos stoppen, Radsportler staunen. „Daumen hoch“ wohin man schaut. Noch nie erlebte ich, dass ein Auto so derart viele positive Reaktionen hervorruft.
Gut, da wusste ich aber auch noch nichts von jener Demo an der Uferpromenade von Annecy…
Beim Mittagsstopp am gleichnamigen See aber heißt es zunächst Abschied nehmen von meinem 720S. Mit Kollegen tausche ich das Auto und nehme in einem McLaren GT in der Farbe MSO Lantana Purple Platz. MSO steht auch hier wieder für die McLaren Special Operations.
Wechsel: vom McLaren 720S in den McLaren GT
Wir entscheiden uns, nun aber im Konvoi zu fahren, um so auch ein paar Fotos von Auto zu Auto machen zu können. Vom idyllischen Örtchen Talloires geht es ein Stück den See entlang und ich merke schnell, dass McLaren 720S und McLaren GT doch deutlich unterschiedliche Fahrzeuge sind.
Streuen wir an dieser Stelle also ganz nonchalant ein paar Daten ein. Der 720S ist 4,54 Meter lang und 2,16 Meter breit, bringt es im Falle des Spiders auf ein Leergewicht von ca. 1.332 kg. Übrigens sind das lediglich 50 kg mehr als beim Coupé. Auch das eine Meisterleistung britischer Ingenieurskunst und unter Anderem dem weit hochgezogenen Karbon-Monocoque zu verdanken.
Ein paar Zahlen, Daten, Fakten
Der GT ist mit 4,68 Metern zwar etwas länger, mit 2,09 Metern dafür schmäler als der Supersportler. Auf der Waage stehen 1.530 kg. Als Grand Tourer ist sein Fokus auf andere Dinge gerichtet als das beim 720S der Fall ist. Das Cockpit wirkt äußerst edel und hinter den Sitzen wartet ein mit Spezialstoffen aus der Raumfahrt (hach, das klingt immer so beeindruckend) ausgekleidetes Gepäckabteil, in welchem auch ein Golfbag seinen Platz finden kann.
Bei 420 Litern Gepäckvolumen – zusätzlich zu den 150 Litern unter der vorderen Haube, ist auch mal ein längerer Ausflug in die Ferien möglich, ohne dass man auf die nötigsten Goodies verzichten müsste. Ja, bequemes, entspanntes Reisen mit dem Wissen um die Power eines Supersportlers in der Hinterhand, das ist das Metier des McLaren GT.
Dennoch: der Umstieg von 720S auf GT fällt mir schwer. Verdammt schwer. Fast schon neidvoll blicke ich nach vorne, sehe zu, wie mein vorheriger automobiler Begleiter die kurvigen Bergstraßen und Kehren erklimmt. Jammern auf hohem Niveau fürwahr, dennoch löst der 720S in mir Emotionen aus, die der GT nicht auszulösen vermag. Bin ich verliebt? Nun, das wäre vielleicht etwas übertrieben, wobei die Optik des 720S auch oder gerade in der Heckansicht schon extrem fein ist.
Der 720S zieht mehr Aufmerksamkeit auf sich
Mit meinem Eindruck bin ich übrigens nicht alleine. Auch entlang der Straße zieht der 720S weitaus mehr Blicke auf sich. Und das, obgleich der GT in diesem Fall die nun wirklich auffälligere Farbe hat.
Blicke auf sich ziehen, das tun beide McLaren, als sie letztlich auf der Uferstraße von Annecy im Stau stehen. Die Systemkritiker sind unterwegs. Und wir stehen auf dem Präsentierteller. Alle Blicke auf die beiden insgesamt gut eine halbe Million Euro teuren Sportwagen. Es dauert keine Minute, ehe eine Dame mittleren Alters im Blumenkleid an meinem Fenster steht und mir mit gesenktem Daumen und einer Geste des Nase Zuhaltens bedeutet, dass ich für den Untergang der Welt verantwortlich bin.
Hey, dabei hat’s doch sogar eine Start/Stopp Automatik. Und der Verbrauch ist mit – nein lassen wir das. Okay. Ja, ich bin Schuld. Stellvertretend halt für alle Sportwagenfahrer. Ein Glück bringt McLaren mit dem Artura bald auch einen Plug-In Hybrid, der sich in Situationen wie diesen leise säuselnd von dannen pirschen kann. Heute aber müssen wir da nochmal durch und hoffen, das Ganze ohne bespuckte Scheiben und Schlüsselkratzer zu überstehen.
Die Dame im Blumenkleid
Rund tausend Protagonisten später zeigt sich: die Dame im Blumenkleid bleibt die Einzige ihrer Art. Ansonsten auch hier: Daumen hoch, Väter, die ihren Söhnen die britischen Exoten zeigen, viele gezückte Smartphones und Aufforderungen, wahlweise doch mal auf die Hupe oder aufs Gaspedal zu drücken. Es ist wohl doch noch nicht alles verloren.
Die Rückreise nach Genf erfolgt ohne weitere Probleme und auch das Télépéage-Gerät öffnet die Schranken so, wie es sein soll. Kein Aussteigen unter süffisanten Blicken anderer Autofahrer mehr nötig, lediglich eine Polizeikontrolle stoppt uns noch. Wie es denn sein könne, dass das Auto britische Kennzeichen habe und dennoch ein Linkslenker sei, will man wissen, in Wirklichkeit aber wahrscheinlich eh nur mal einen Blick in den Innenraum werfen. Mensch, sagt’s doch einfach.
Fazit? Liebe.
Zurück im Hotel wartet dann noch einmal der McLaren Speedtail mit geöffneten Türen auf Fotos und auch die zugehörige Richard Mille RM 40-01 darf ich noch einmal anlegen. Allein, meine Wahl ist längst gefallen. Denn für den 720S Spider ließe ich alle anderen hier stehen. Verliebt? Na gut. Vielleicht doch. Ein bisschen.
Behind the Scenes – das Making-of Video zum Bericht
Wie entsteht eigentlich so ein Bericht? Was erlebt man auf einer Reise wie dieser? Wer das einmal wissen möchte, der findet die Antwort in unserem neusten YouTube Video.
Hinweis zur Transparenz
Die Einladung nach Genf erfolgte durch McLaren. Eine redaktionelle Einflussnahme auf diesen Artikel fand nicht statt.
Fotos: © PCS 2021
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